Denk daran
Der kühle Wind blies dem Oberschüler ins Gesicht. Er fiel und fühlte sich einfach wunderbar. Gleich würde er endlich frei sein. Etwas ängstlich öffnete Ryo seine Augen, er wollte wissen wie weit es noch bis nach unten war. Doch anders als erwartet sah er nicht den gepflasterten Boden, sondern in den Himmel. Ryo schloss seine Augen wieder. Das konnte nicht real sein. War er etwa schon Tod und hatte nichts davon mitbekommen? Noch einmal öffnete er seine Augen und wieder hatte er dasselbe Bild vor sich. Er sah in den Himmel. Tod konnte er auch nicht sein, denn er fühlte sich nicht frei, eher eingeengt. Hatte er sich nicht fallen lassen? Doch! Da war er sich absolut sicher! Auf einmal wurde es um ihn herum noch enger. Dann hörte er jemanden seinen Namen rufen. Die Stimme kam ihm so bekannt vor und er spürte Wärme in sich aufkommen. So etwas hatte er noch nie gespürt. Doch, was war das? Dann entfernte sich der Himmel plötzlich von ihm. Er schien in ein schwarzes Loch zu fallen und bekam mit einem Mal panische Angst.
Schlagartig öffnete Ryo seine Augen. In diesem Moment fühlte er etwas Warmes auf seine Wange tropfen. Für einen Moment dachte er es würde regnen, doch dem war nicht so. Über seinem Gesicht war das von Masato und es schien so als wäre es eine Träne von ihm gewesen. Masato hatte seine Augen geschlossen und wohl noch nicht mitbekommen, dass Ryo wach war.
Als Ryo Hibari so sah schmerzte seine Brust. Wie von selbst wanderte seine Hand zu dessen Gesicht und wischte ihm die Tränen weg.
„Ryo!“, sagte er mit lauter Stimme und drückte ihn an sich.
Der Oberschüler sagte nichts, er ließ es einfach geschehen. Viel zu schön war diese Wärme die er in diesem Augenblick spürte.
Nach einigen Minuten gab Masato Ryo wieder frei und sah ihn an.
„Wa… was ist passierst?“, fragte Ryo dann.
„Du weißt es nicht?“ Hibari sah ihn überrascht an.
„Naja, ich weiß nur noch, dass ich am Rand des Daches stand und mich nach vorne fallen lassen habe… Danach ist alles weg.“, meinte er. „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
Masato hielt Ryo noch immer im Arm und sah ihn nun mit traurigem Blick an.
„Du… du hast dich fallen lassen…“, sagte er dann mit weinerlicher Stimme. „Ich konnte dich in letzter Sekunde noch am Arm festhalten und dich wieder hochziehen. Du musst ohnmächtig geworden sein, denn als ich dich wieder oben hatte warst du nicht ansprechbar…“
„Hmn…“ Ryo schwieg. Es war also doch keine Einbildung gewesen. Er hatte sich wirklich fallen gelassen. Doch wieder wurde es verhindert, wieder von derselben Person. (Dabei bist du doch…)
„Ryo?“
„Wa… was?“, fragte er etwas erschrocken.
„Du warst so still…“, erwiderte Hibari.
„Ich… habe nur über etwas nachgedacht. Also habe ich es wirklich getan… du hast mich damit nun schon zum zweiten Mal daran gehindert endlich zu verschwinden.“
„Wa… Ich…“, stotterte Hibari.
„Wie hast du mich nun gefunden?“, fragte Ryo noch einmal nach.
„Ich…“, begann Masato. Zuerst zögernd änderte sich Masatos Blick einen Moment später. „Das ist doch jetzt völlig egal! Viel wichtiger ist doch die Frage wieso! Wieso willst du verschwinden? Ich verstehe es einfach nicht…“
Ryo senkte seinen Blick, befreite sich aus den Händen seines Mitschülers und setzte sich ein wenig abseits von ihm auf den Boden. Nun herrschte Stille. Ryo überlegte ob er es ihm sagen sollte oder nicht.
„Ich bin einfach nicht normal.“, platzte es dann aus ihm heraus.
„Was?“, fragte Hibari leicht verwirrt.
„Ja… Sieh mich doch an… mein Äußeres, mein Inneres. Vor allem mein Inneres. Alle haben es mir ins Gesicht gesagt. Ich bin einfach nicht normal.“
„Was soll an dir denn bitte nicht normal sein?“ Hibari sah Ryo fragend an und setzte sich neben ihn. „Du hast unterschiedliche Augenfarben, ja. Doch ich finde das eher cool als unnormal.“
Ryo wendete seinen Blick Masato zu und sah diesen nun überrascht an. Das letzte Mal, als er ihn über seine Augen reden hörte, machte er sich über ihn lustig und jetzt sagte er so etwas. Langsam wurde Ryo aus ihm nicht mehr schlau.
„Auf einmal? Das letzte Mal hast du dich darüber lustig gemacht.“
„Das…“ Hibari hielt einen Moment inne. „Es tut mir leid, es war nicht meine Absicht dich mit meinen Worten zu verletzten. Ich wusste mir nicht anders zu helfen…“
„Was?“, fragte Ryo, der Masato nicht folgen konnte.
„Ist nicht so wichtig.“, erwiderte er. „Ich verstehe immer noch nicht wirklich warum du deshalb ver… verschwinden willst.“
„Das ist nicht so einfach… ich habe mit meiner Familie darüber geredet. Mit Freunden die ich schon seit klein auf kenne. Alle sagten, dass dies nicht normal ist. Das ich nicht normal bin… Dazu ständig diese seltsamen Gefühle, ich ertrage das einfach nicht mehr.“
Stille. Ein leichter Wind wehte durch den frühen Morgen und brachte ein wenig kühle mit. Masato legte seine Trainingsjacke über Ryos Schultern als er merkte, dass dieser leicht zitterte.
„Hör mal… ich weiß ja, dass du mich hasst, doch ich bitte dich, verschwinde nicht. Du magst keinen Grund haben, denn schließlich war ich bisher immer nur gemein zu dir… Und natürlich ist „Ich wusste mir nicht anders zu helfen.“ keine Entschuldigung dafür.“ Masato überlegte einen Moment ehe er weiter sprach. „Auch wenn dir gesagt wird, dass du nicht normal bist, dass du nichts wert bist… Denk daran, dass es immer einen Menschen gibt, der dich mit anderen Augen sieht. Der dich so nimmt, wie du bist, jemanden der dich liebt…“
„Wo soll es so jemanden bitte geben?“, meinte Ryo spöttisch. Jemand der ihn mag? Das er nicht lachte. Wie konnte man ihn mögen, ihn? Das war unmöglich.
Ryo stand auf und lief langsam auf den Rand des Daches zu.
„Ryo! Ich bitte dich!“, schrie Masato mit weinerlicher Stimme. „Auch wenn du mich hasst… ich… ich bitte dich…“ Er hockte zusammengekauert auf dem Boden.
„Masato…“ Der Oberschüler drehte sich zu ihm um. „Ich hasse dich… nicht…“
„Was?“ Völlig perplex sah Hibari ihn an.
„Du hast schon richtig gehört…“, sagte Ryo. „Ich hasse dich nicht... Du hast das einfach nur gedacht, weil du mich nicht ausreden lassen hast…“
„Aber… aber…“ Hibari wusste nicht was er sagen sollte.
Ryo war zu dem Entschluss gekommen es ihm einfach zu sagen. Was hätte schon großartig passieren können außer, dass er sich noch mehr über ihn lustig machte oder ihn von nun an ganz meidet wie die Anderen.
„Es ist alles deine Schuld.“, sagte er dann zu dem verwirrten Jungen, der ihn nun noch verwirrter ansah.
Einige Minuten vergingen ehe Masato seine Stimme wiederfand.
„Ich… ich verstehe das einfach nicht. Du sagst, du hasst mich nicht, aber es ist mei… meine Schuld? Du kannst mich doch nur hassen… eine andere Möglichkeit gibt es da gar nicht…“
„Ach meinst du?“, erwiderte Ryo und lief einige Schritte auf Masato zu. „So kenn ich dich gar nicht. Was ist nur mit dem Wirbelwind passiert? Naja egal… Ich hau dann mal ab.“ Er ging weiter in Richtung der Tür, die wieder in das Gebäude zurückführte.
„Ryo!“, rief Masato mit lauter Stimme.
Dieser wollte gerade die Tür öffnen, hielt jedoch inne und wartete.
„Ryo…“ Masato erhob sich und lief langsam auf ihn zu. „Weißt du eigentlich, was für ein Tag heute ist?“
„Was?“ Der Oberschüler drehte sich um. „Du fragst mich ernsthaft, was für ein Tag heute ist?“
„Ja, denn anscheinend hast du das vergessen…“
Ryo dachte kurz nach, doch er hatte keine Ahnung was sein Gegenüber meinte. „Ich habe keinen Schimmer was du meinst. Ich gehe jetzt!“
„Warte!“ Hibari griff nach Ryos Arm und hielt ihn fest. „Dein Geburtstag! Heut ist dein Geburtstag!“
„Wa… wa… was?“ Verwirrt zog Ryo sein Handy aus der Tasche und sah aufs Datum. „28. Juli…“
„Ja, dein Geburtstag.“, sagte Hibari und gab Ryos Arm wieder frei.
„Wie konnte ich das nur vergessen?“, fragte er sich laut. „Ist ja irgendwie witzig. An dem Tag, an dem ich geboren bin, sterbe ich auch.“
„Was soll das heißen an dem stirbst du auch?“
„Na das, was es eben heißt.“
„Ryo… ich bitte dich…“ Masatos Blick war nun angsterfüllt und traurig.
Ryo konnte diesen Blick nicht ertragen, drehte sich wieder um und starrte nun die Tür an.
„I... ich.“, begann Masato mit zitternder Stimme. „Ich weiß, dass ich nicht gerade nett zu dir war. Es ist mehr als nur verständlich wenn du sauer auf mich bist oder mich hasst.“
„Wie oft soll i-“
„Aber!“, unterbrach Hibari ihn. „Aber, du sollst wissen warum ich das alles getan habe…“
„Na vermutlich weil du mich nicht ausstehen kannst.“, platzte es aus Ryo heraus.
„Nein…“, erwiderte Hibari. „Ich wusste einfach nicht wie ich mich dir gegenüber verhalten soll.“
„Was?“
„Ja, ich wusste auch nicht, warum, aber jedes Mal wenn du mir gegenüber gestanden hast, wusste ich nicht, was ich tun soll. Also habe ich das alles einfach überspielt indem ich gemeine Dinge zu dir gesagt habe. Es tut mir wirklich unendlich leid. Nichts kann dies wieder gut machen.“
„Wieso sagst du mir das alles?“ Ryos Augen waren leicht geweitet und er fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.
„Ich möchte, dass du weißt wie ich fühle…“
„Wie du fühlst?“ Ryos Augen weiteten sich immer mehr.
„Ja, wie ich fühle.“, sagte er. Irgendwann wurde mir klar warum ich mich dir gegenüber so verhalte. Ich liebe dich Ryo. Ich liebe dich…“
Ryo drehte sich blitzartig um. Mit Tränen erfüllten Augen sah er Masato an. „Findest du das etwa auch noch witzig?“, sagte er mit lauter Stimme. „Zuerst sagst du, dass es dir leid tut. Jetzt trampelst du auf meinen Gefühlen rum und machst dich darüber lustig?“
„Was redest du denn da?“ Hibari Masato verstand kein Wort von dem, was Ryo da von sich gab und sah ihn verwirrt an.
„Hast du mich etwa nur aufgehalten damit du weiter deine Spielchen mit mir treiben kannst? Ich sollte dich wirklich hassen!“, schrie Ryo nun. Er lehnte seine Stirn gegen Masatos Oberkörper und hämmerte mit Fäusten auf ihn ein. „Ich sollte dich hassen! Hassen!“, schrie er. „Wieso muss ich dich lieben? Wieso!? Ich versteh das alles nicht!“
„Ryo… Ryo!“ Masato, der das, was Ryo eben gesagt hatte nicht wirklich glauben konnte, versuchte diesen zu beruhigen. Doch Ryo schlug weiter auf Hibari ein. Dessen Blick wurde mit einem Mal ernst. Er griff nach Ryos Armen und drückte ihn gegen die Tür. Ihre Augen trafen sich einen kurzen Augenblick ehe sich ihre Lippen berührten. Masato hatte seine Lippen auf die von Ryos gelegt und hoffte ihn so beruhigen zu können, was anscheinend auch klappte.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Oberschüler Masato an. Realisierend, was da gerade geschah, beruhigte Ryo sich allmählich wieder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sich ihre Lippen voneinander. Masato sah in die noch immer weit geöffneten Augen Ryos. „Ist das wirklich wahr? Du liebst mich?“, fragte er dann gerade heraus.
Der Oberschüler sah leicht verlegen zu Boden und nickte. Masato zog ihn an sich und umarmte ihn. Langsam glaubte Ryo an seine Worte. Erneut füllten sich seine Augen mit Tränen. So wohl und geborgen hatte er sich noch nie gefühlt.
„Ich liebe dich Ryo. Ich liebe dich wirklich.“, flüsterte Masato nach einer Weile. Es waren inzwischen mehrere Minuten vergangen als er es endlich schaffte die Umarmung zu lösen.
„Also bin ich nicht unnormal?“, fragte Ryo dann vorsichtig mit leiser Stimme.
„Was? Weil du mich liebst? Deshalb dachtest du, du bist nicht normal? Was hast du nur für eine Familie und Freunde…“ Masato küsste Ryo auf die Wange, woraufhin ihn dieser etwas verlegen ansah. „Ryo, nur weil du einen Jungen liebst bist du doch nicht unnormal. Es gibt so viele die das gleiche Geschlecht lieben. Größtenteils wird es auch akzeptiert, doch leider gibt es auch jene die es abstoßend finden. Aber das ist mit allem, was es auf der Welt gibt, so. Darüber brauchst du dir keine Gedanken mehr machen, okay?“
„O... okay.“, erwiderte der Oberschüler nickend.
„Und ich habe gedacht du hasst mich.“
„Ich hab dir doch vorhin gesagt ich hasse dich nicht…“
„Ja, dass hast du.“, sagte Masato lächelnd und Blickte in die aufgehende Sonne. „Alles Gute zum Geburtstag.“
„Danke!“, erwiderte Ryo nun auch lächelnd.
Beide sahen sich an und küssten sich.
„Du hast jetzt nicht mehr vor da runter zu springen oder?“, fragte Masato nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten und deutete zum Rand des Daches.
„Nein, habe ich nicht.“, gab Ryo als Antwort und schüttelte den Kopf
„Schön.“, erwiderte Hibari. „Was machen wir nun?“
„Lass uns zur Schule gehen.“
„Hmn, okay.“, sagte Masato lächelnd.
Ryo öffnete die Tür.
„Hier, deine Tasche.“ Hibari hielt ihm seine Tasche hin.
„Ah, danke. Die hätte ich beinahe vergessen.“
Beide nahmen sich an die Hand und wollten gerade losgehen als Ryo Masato zurückzog.
„Was ist?“, fragte er etwas erschrocken.
„Eine Frage habe ich da noch.“, sagte Ryo.
„Ja?“
„Wie hast du mich nun eigentlich gefunden?“
„Ist das denn so wichtig?“, fragte Hibari mit leicht geröteten Wangen.
„Ja, ist es!“, meinte Ryo und sah ihn mit großen Augen an.
„Na gut.“, seufzte Hibari. „Ich bin dir eben öfter nachgelaufen. Ich wollte eben wissen wohin du gehst und was du so machst.“
„Was?“
„Nun schau doch nicht so!“, sagte Masato verlegen. „Na los, gehen wir!“ Er lief los und zog Ryo hinter sich her.
Lächelnd und glücklich ließ Ryo sich mitziehen und so liefen beide ihrer gemeinsamen Zukunft entgegen.
~Ende~